Page 4 - Dialekt
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1 Aktuelle Tendenzen
In einer Ötztaler Mittelschule kommen im Rahmen des Muttersprachenunterrichts in Deutsch
die verschiedenen Sprachformen und Sprachebenen zur Sprache. Im Zuge der sich
entwickelnden lebhaften und interessanten Diskussion sind sich die einheimischen
Schüler/innen bald einmal einig und vertreten vehement die Auffassung, dass Deutsch
keinesfalls ihre Muttersprache ist, sondern ihr heimischer Ötztaler Dialekt, auf den sie
übrigens sehr stolz sind, seit er 2010 das Prädikat „immaterielles Weltkulturerbe der
UNESCO“ erhielt.
„Na, Deitsche sein mir koene!“ lautet der einhellige Tenor. Die ebenfalls gar nicht so
wenigen zur Klassengemeinschaft zählenden Schüler/innen mit anderen Muttersprachen als
Deutsch beklagen dagegen, dass genau dieser Dialekt ihnen das geforderte und erwünschte
Erlernen der Standardsprache als wesentliche Integrationsbedingung ungemein erschwere,
wie überhaupt das sprachliche Umfeld, auch das schulische, diesbezüglich recht
uneinheitlich und insgesamt wenig förderlich wäre.
Die Schulbehörde versucht darauf mit Aktionen und Schwerpunktsetzungen wie
„Sprachsensibler Unterricht“ zu reagieren, was immer auch darunter subsummiert werden
kann, und fordert die Lehrenden zur verstärkten Beachtung einer präzisen
Sprachverwendung auf.
Gar keine Frage also: Dialekt ist Thema!
Während aber andernorts diesem vielfach und vielschichtig Beachtung zukommt, bleibt in
Tirol vieles letztlich den Initiativen einzelner Interessierter überlassen, denen es halt ein
Anliegen ist. Ob Zirkel wie „Mundartkreis“, sporadische Medienimpulse oder kulturpolitische
Praxis, es geschieht eher zufällig und beliebig, manchmal alibimäßig, von einer
systematischen Befassung damit kann aber keine Rede sein.
Über Sprache als dem Menschen wesenhaft mögliches Ausdrucksverhalten erfährt und
begreift ein Mensch sich und die Umwelt und gewinnt so Rückschlüsse über seine Stellung in
seiner Lebenswelt. Sprache spiegelt Welterfahrung und Weltanschauung und ist „Zeige“ im
Heidegger´schen Verständnis, indem sie auf etwas verweist und manches offenbart. Schon
im Mutterleib erlebt das heranwachsende Kind den lautlichen Klang der es umgebenden
Sprachwelt(en). Nach seiner Geburt erwirbt es im dyadischen Kontakt mit seinen
Beziehungs- und Pflegepersonen, vornehmlich mit der Mutter, die Muttersprache als Medium
der Kontaktherstellung und Kommunikation. Mit zunehmender Einsicht, Erweiterung seiner
kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie vor allem durch Nachahmung und
Verstärkungs- bzw. Erfolgslernen wächst es in sein sprachliches und kulturelles Umfeld und
erweitert seine sprachlichen Ausdrucks- und Mitteilungskompetenzen.
Sprachen unterscheiden sich als unterschiedliche Sprachwelten, wie Sprachvergleiche
deutlich machen und aufzeigen. Aber auch innerhalb einer Sprache zeigen sich
verschiedene Ausdrucks- und Mitteilungssysteme. Es ist zum Beispiel bekanntlich nicht
dasselbe, ob ein Inhalt, eine Lebensanschauung oder eine psychische Regung etwa in
Standardsprache, Umgangssprache oder Mundart weitergegeben wird. Nach einem Kaiser
Karl V. zugeschriebenen Ausspruch wird jemand „so oft Mensch sein, so viele Sprachen er
versteht.“iii
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