Page 14 - Dialekt
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4 Dialekt als eigentliche Muttersprache

Der Dialekt bzw. die Mundart eines Ortes, eines Tales oder einer Region ist ein wesentlicher
Teil der Identität der ansässigen bzw. einheimischen Bevölkerung, weiters Ausdruck von
Gemeinschaft und gleichzeitig Katalysator dafür eine solche zu stiften. Man bleibt
untereinander gewissermaßen „im Wort“ (Louis Oberwalder), man versteht sich im
eigentlichen Sinn des Wortes, man muss irgendwie eingeweiht sein und dazu gehören.

Dialekt wirkt manchmal fast wie eine Geheimsprache. Aus dieser Motivation habe ich vor
bald 60 Jahren im Internat begonnen mein Tagebuch im Dialekt zu schreiben und so gegen
mein Heimweh anzukämpfen. Für mich war es damals sehr wichtig, allen Korrekturversuchen
zum Trotz weiterhin meinen Dialekt zu sprechen, auch wenn ich dafür immer wieder
belächelt wurde. Meine Sprache, mein Dialekt, letztlich mein Ideolekt wurden und blieben für
mich bis zum heutigen Tag wesentlich und identitätsstärkend.

Im Dialekt sind bestimmte Erlebnis- und Denkmuster verbalisiert und konkretisiert, oft für
Außenstehende nicht nachvollziehbar und verständlich. Eine Mundart ist einem Seelen-
Spiegel vergleichbar, in dem sich ursprüngliche, urige Gefühle, authentische Einsichten und
archaisch-archetypische Erfahrungen aus der Geschichte der Menschen einer bestimmten
Gegend ablesen lassen.

Die Menschen mögen vielleicht verschlossen und wortkarg sein, ihre Sprache selbst aber ist
ausdrucksstark, vital, lebendig, bunt, melodiös und kreativ. Wenn man in einer Sprache
träumt und flucht, dann beherrscht man sie, heißt es in der Sprach- und in der
Volkpsychologie.

Dies ist so zu verstehen, dass die Sprache, in der man träumt oder flucht, sich als
Erstsprache eines Sprechers erweist, d. h., dass in Situationen mit hohem Gefühlsanteil oder
Aussagen im Affekt solche zumeist in der Mutter- bzw. eigentlichen Primärsprache erfolgen,
bei Mundartsprecher/innen ist dies eben durchwegs die Mundart.

Die gegenwärtigen Lebensumstände, auf Mobilität, Medialisierung usw. wurde bereits
mehrfach verwiesen, verändern Sprache generell, sie nagen an der Standardsprache
genauso wie am Dialekt. Für diesen als sprachliches Ausdrucksmittel eher kleinerer
geografischer Einheiten wie eines Ortes oder einer Talschaft erweisen sich derartige
Reduktionen verständlicher Weise als bedrohlich.

Man hat dies erkannt und ist vielerorts dazu übergegangen, mittels Dokumentationen und
Erstellung von mundartlichen Wörterlisten diesem drohenden Verlust zu begegnen. Ob das
aber eine Rettung bzw. Bewahrung zu bewirken vermag oder nicht doch eher lediglich
museale Auffassungsweisen, wie ich befürchte, sei dahin gestellt und wird wohl nur Erfolge
zeitigen, wenn die lebendige Pflege in allen Lebens- und Kulturbereichen sichergestellt wird.
Durch Dialekt Heimat schaffen könnte ein solches Motto darstellen.xxix

Jede Sprache verfügt über so etwas wie eine eigene Mentalität, die auch ihren Sprechern
eigen ist (bekanntlich haben Süddeutsche einen anderen Humor als Norddeutsche, verfügen
Vorarlberger [schwäbisch-alemannisch] über eine andere Denk- und Wesensart als etwa
Tiroler [bairisch], denken und fühlen Oberländer anders als Unterländer, sind Hinterötztaler
anders als Vorderötztaler, und sie alle reden anders). Eine Sprache ist von besonderer
psychischer Nähe: die Muttersprache, im Sinne der bereits referierten Whorf-Sapir-
Hypothese bedeutsam für die Aufgliederung und Erschließung der Lebenswelt an Linien,
welche durch die Muttersprache vorgegeben sind. Bei uns ist noch immer die Mundart die

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