Page 15 - Dialekt
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eigentliche Muttersprache eines Großteils der Bevölkerung und als solche vor allem die in
emotionaler Hinsicht ursprüngliche Ausdrucksform. Es ist mittlerweile jedoch so, dass bereits
in einem Dorf und sogar in einer Familie unterschiedliche Dialektvarianten gesprochen
werden. Generationsunterschiede werden zunehmend feststellbar. Personen, die wohl im
Dorf aufgewachsen sind, nun aber an anderen Orten leben und arbeiten, sprechen den
Dialekt mit der Zeit meistens anders aus und kennen bzw. verwenden viele Wörter nicht
mehr.
Anlässlich der 50-Jahr-Feiern in Dreizehnlinden/Treze Tilias (Brasilien, Santa Catarina) 1983
habe ich dort u. a. die Veränderungen der Tiroler Mundarten untersucht, welche die
Nachfahren der vormaligen Auswanderer 1933 nun bereits in der fünften Generation
sprechen. Man sprach/spricht einerseits noch die alte Mundart von damals, die es bei uns so
schon nicht mehr gibt, und alles, was nicht im Dialekt ausdrückbar ist, weil es dazumal nicht
im sprachlichen Inventar enthalten war, wird hauptsächlich auf Portugiesisch (manchmal
auch Italienisch) gesagt; wobei sich bestimmte Wortgattungen schneller und nachhaltiger
verflüchtigen als andere, und das ist das Bemerkenswerte, umgekehrt bzw. reziprok zum
Spracherwerb.
4.1 Muttersprache - Die Sprachen der Mütter
Jemand anderen erkennt man durch ein anderes Aussehen und durch unterschiedliche
Verhaltensweisen als jemanden, der fremd ist. Ähnlich verhält es sich mit der Sprache, die ja
ebenfalls eine besondere, spezifische, typische und charakteristische Art des
Kommunikationsverhaltens bzw. des sozialen Handelns darstellt. Daran ist auch zu
erkennen, ob jemand dazu gehört oder nicht. Der vertraute Klang von Sprach- und
Sprechmustern durch bekannte und geliebte Bezugspersonen macht schließlich den
psychischen Wert z. B. der Muttersprache aus, jener Sprache, mit der ein Kleinkind von der
natürlichen hauptsächlichen bzw. primären Pflegeperson, in der Regel von der Mutter, von
Anfang an Ansprache erfährt, die mit den positiven Gefühlen von Geborgenheit, Urvertrauen
und Heimat verbunden sind und schließlich als die eigene Sprache empfunden wird.
Wer einmal im fernen anderssprachigen Ausland war, kennt solche Regungen und kann sie
bestätigen: aus dem umgebenden Stimmengewirr wird jeder bekannte Laut herausgefiltert,
man fühlt sich der betreffenden Person automatisch verbunden, und man freut sich,
jemanden zu treffen, der dieselbe Sprache spricht wie man selbst. Insofern ist Sprache
Heimat. Durch Sprache wird Heimat geschaffen. Für in einer dialektsprechenden Familie
oder Dorfgemeinschaft Aufwachsende verfügt natürlich der heimatliche Dialekt über diese
psychische Qualität. Es wird somit auch verständlich, inwiefern die Beherrschung der
Sprache des Gastlandes für Migrantinnen und Migranten einen ausschlaggebenden Aspekt
der Integration darstellt. Alexander von Humboldt beispielsweise sah die Muttersprache als
Königsweg zur Bildung der Persönlichkeit. Übereinstimmend empfehlen
Sprachwissenschafter/innen und Sprachdidaktiker/innen daher: „... die Herausforderung
annehmen: Lokal sprechen, global handeln“.xxx
Menschen aus verschiedenen Gegenden mit den unterschiedlichsten Sprechmustern und
Sprachcodes kommen und kamen nicht nur für eine Weile, sondern einige, gar nicht so
wenige, bleiben und blieben auf Dauer. Das Heiraten und Kinderkriegen hat dabei eine große
Rolle gespielt, wobei die zugeheirateten und zugezogenen Frauen in dieser Hinsicht bis auf
Ausnahmen durchwegs wirksamer waren und sind als die Männer. Denn über die emotionale
Bindung an die hauptsächliche Pflege- und Bezugsperson, in der Regel nach wie vor die
Mutter, doch beileibe nicht (mehr) in jedem Fall, erwirbt ein Kind auch deren Sprachformen.
Daher spricht man ja auch von der Muttersprache. Sprachgrenzen ziehen sich somit auch bei
uns durch viele Häuser. Ich brauche mich nur in meiner näheren Umgebung etwas
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