Page 20 - Dialekt
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5 Dialekt und Hochspracherwerb

im Hinblick auf weiterführendes Lernen
Spracherwerb, Sprachkompetenz und Sprachperformanz sind für den weiteren Bildungsweg
und in der Folge für die berufliche Laufbahn und insgesamt für den Lebensweg in vielfacher
Hinsicht bedeutsam. Frühe Spracherwerbsprozesse sind durch weitgehend automatische
Abläufe gekennzeichnet.

Dabei sind Kinder durchaus im Stande gleichzeitig mehrere Sprachen oder Sprachformen zu
erlernen. Durch den Erwerb der Standardsprache (z. B. in der Familie oder im Kindergarten
und in der Schule) erfolgt eine Normierung und auch Explizierung des Sprachvermögens. Für
die Erfassung der lautlichen Eigenschaften von Wörtern ist die sog. phonologische
Bewusstheit zur Wahrnehmung der diesbezüglichen Unterschiede zwischen Dialekt und
Standardsprache erforderlich.

Ein Kind hat die Gegenstände und Gegebenheiten seiner Umwelt sprachlich zu benennen
und erschließt dadurch seine Lebenswelt. Über Sprache geschieht das Vertrautwerden mit
der Kultur und das Hineinwachsen in diese. Sprache und Kultur sind also untrennbar
miteinander verbunden und aufeinander bezogen.xli Die Kenntnis einer bestimmten Sprache
und Kultur beeinflusst die Wahrnehmungen und Vorstellungen einer Person von der Welt und
auch von sich selbst (z. B. wenn ein ausländisches Kind Tiroler Umgangssprache oder gar
Dialekt lernt und spricht und nicht deutsche Standardsprache, diese aber erlernen soll; oder
was passieren kann, wenn jemand in Tirol hochdeutsch spricht). D. h., je nach Sprache und
Begrifflichkeit werden Gegebenheiten der objektiven Welt unterschiedlich konzeptualisiert.
Die jeweilige Sprache ist somit durchaus als Schlüssel zu verstehen, über welchen die
verschiedenen Erfahrungs-, Wirklichkeits- und Lebensbereiche einer Person erschlossen
werden.

Dialekt wurde lange Zeit als Sprachbarriere betrachtet. Man befürchtete, dadurch würde den
Kindern der Erwerb der Standardsprache erschwert, und Fehler beim Sprechen und
Schreiben würden begünstigt.

Ab den neunzehnhundertsechziger Jahren kam es zu einem Umdenken, welches Dialekt als
Sprachform mehr oder weniger salon- und auch literaturfähig machte.xlii Es blieb nur eine
Frage der Zeit, bis die Beachtung des Dialekts und die Befassung damit in (schul-)
pädagogisch-psychologischer Hinsicht, die Berücksichtigung ihres emotionalen Wertes sowie
ihre Zulassung und Tolerierung als eine bestimmten Situationen angemessene Sprachform
erfolgte.xliii

Man erkannte u. a., dass die sprachliche Kluft zwischen Mundart sprechenden Kindern und
die Schriftsprache gebrauchenden Lehrerinnen und Lehrern fraglos eine Verständigungs-
und Verständnisbarriere darstellt, die sich auf die schulischen Erkenntnis-, Lern- und
Verstehensleistungen beeinträchtigend auswirken konnte.

Diese Kinder wurden in den Schulen durch die geänderten sprachlichen Anforderungen und
Gegebenheiten in eine natürliche Zweisprachigkeit mit allen ihren Zusammenhängen und
Folgeerscheinungen gedrängt. Mittlerweile hat sich jedoch gezeigt, nicht zuletzt auch durch
internationale Vergleichsstudien wie PISA oder PEARLS, dass dialektsprechende Kinder
eigentlich die Nase vorne haben, weil sie über eine Sprache mehr verfügen.

Es ist kein Nachteil Dialekt zu sprechen, im Gegenteil, er stellt eine zusätzliche sprachliche
Chance dar. Die gezielte Befassung mit den Eigenheiten, Gemeinsamkeiten und
Unterschieden dieser Sprachvarietäten und ihre situationsangemessene Verwendung fördert
die Ausbildung des Sprachbewusstseins und der Ausdrucksfähigkeit. Auch der Wechsel
zwischen beiden Sprachformen wird so geübt, eine wichtige Fähigkeit für bzw. bei

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