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Geschichten Joseph (Sepp) Rossa
Die Frau am Gilfert
Ihm war die Schispur schon weiter oben aufgefallen, weil sie abseits der Abfahrt
durch den Pulverschnee führte. Er hatte sich oben am Gipfel etwas verspätet. Die
Aussicht war so großartig, dass er sich, obwohl er schon oft oben war, nicht satt
sehen konnte. Jetzt aber da dunkle Wolken immer schneller näher kamen hatte
er es eilig. Weit und breit war keiner der Tourengeher mehr zu sehen, es waren
an dem Tag auch nicht allzu viele die die 2 Stunden herauf gegangen sind.
Die Schispur, der er nach fuhr, war mit einem Mal verschwunden. Das ließ ihm
keine Ruhe und er blieb stehen, um die Schispur zu suchen. Es fiel ihm auf, dass
die kleine Schneewechte linkerhand durchbrochen war, stapfte hin und sah, dass
etwa vier Meter weiter unten jemand lag und stöhnte. Er schnallte die Schier ab,
und mühte sich durch den tiefen Schnee zu der Person. Es war eine Frau.
Stöhnend sagte sie: „Gott sei Dank“ als er begann sie auszugraben.
Sie hatte sich allen Anschein nach dem linken Bein gebrochen und konnte nicht
aufstehen. Schnell schlüpfte er aus seinem Anorak, hing ihn ihr über die
Schultern, öffnete ihre linke Schi-Bindung, der rechte Schi war nicht mehr zu
sehen, klopfte vorsichtig den Schnee von ihren Beinen und setzte sie erst einmal
behutsam auf seinen Rucksack.
Es hatte in der Zwischenzeit begonnen zu schneien und es wurde dämmerig. Er
musste versuchen die Frau ins Tal zu bringen, auf Hilfe war nicht zu hoffen.
Etwa 500 Meter weiter unten wusste er eine Jagdhütte. Wenn er sie bis dahin
tragen würde, könnte sie sich dort ausruhen und er konnte Hilfe holen.
Es war mühsam. Sehr mühsam. Am Rücken hatte er den Rucksack mit den
Schiern und vorne trug, zog, schleppte er die Frau. Obwohl sie sehr tapfer war,
schrie sie doch bei manchen Bewegungen laut auf.
Bis sie aus dem Graben herausgekommen waren war es stock-- finster und der
Schneefall war heftiger geworden.
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